FOUNTAINS & ALLIGATOR – Artist Statement
22. Februar 2016

DAS ZEICHNEN IST DIE LEIDENSCHAFT, DIE HINTER ALLEM STEHT«

Glückliche Findigkeit hat alle Entscheidungen bestimmt, die ich seit 2006 bei meinen Collagen getroffen habe. Weil ich ein absoluter Diktator bin, wenn es um meine handwerklichen Manipulationen geht, hielt ich es für klug, mich beim Betrachten eines neuen Bildes ganz meinem Gefühl und der Anziehungskraft des Bildes hinzugeben. Dass ich meine eigene Handschrift oft im traditionellen Stil des Druckes verberge, bereitet mir kein Kopfzerbrechen – schließlich bin ich starrköpfig und diszipliniert genug, um der Fantasie bis zum bitteren Ende freien Lauf zu lassen und den Druck so umso mehr zu meinem Eigentum zu machen.

Den Druck, der der Grundstein zu FOUNTAINS & ALLIGATORS werden sollte, habe ich auf einem Sonntagsflohmarkt in der New Yorker Upper West Side gekauft. Dieser stockfleckige kleine, feine Druck mit der Nummer „497“ wurde im Jahr 1808 gestochen, also noch vor dem Aufkommen der Lithografie und des Großseriendrucks. Er stammt aus einem Buch mit dem Titel „Costume Parisien“, eine der ersten gebundenen Modezeitschriften. Ich entdeckte noch Dutzende davon in den Archiven von Argosy Books & Prints, die den Zeitraum von 1808 bis ins Viktorianische Zeitalter umfassen, als groteske Schmuckelemente in Mode waren und offenbar kein einziges Kleidungsstück ohne sie auskommen durfte. Meine Leute trugen Kleider im Empire-Stil mit seiner Verbindung zu Napoleon und zur griechischen Klassik und mit einer zugleich spürbaren modernen Ausstrahlung. Angesichts der Kargheit, in der sie da in ihrem Rechteck lebten, konnte ich meine eigenen Ergänzungen ganz einfach anbringen und aufgrund ihrer bescheidenen, sittsamen Posen war es beinahe ebenso einfach, sie in spritzende Fontänen zu verwandeln bzw. ihnen krokodilhafte Lebensformen aufzuzwingen. Interessant war auch die Haltung der Menschen: Offenbar war es zu Beginn des 19. Jahrhunderts ganz und gar natürlich, eine Art wehklagende Pose einzunehmen. Man kann sich sehr leicht die verheerenden Auswirkungen einer hohen Kindersterblichkeit und junger Witwenschaft durch Krieg und Krankheit vorstellen. Diese Seiten waren wie eine Fibel für Beerdigungskleidung.

Vielleicht hatten diese gutsituierten Pariser Bürger ja nur auf mein Eingreifen gewartet? Für mich war es jedenfalls die Chance, jeden kleinen Hinweis auf ein Seelenleben der Personen mit Leben zu erfüllen, weiter auszumalen und eine Brücke in unsere heutige Welt zu schlagen, in der wir vielschichtige Bedeutungsebenen brauchen, um uns richtig entfalten zu können. Da lag so viel im Verborgenen, das nur darauf zu warten schien, ausgegraben zu werden! Drapiert man einmal einen Alligator als Schal um die Schultern einer Dame oder verbaut man komplizierte Rohrleitungen in einer Abendrobe, geht es erst richtig los. Jedwede Interpretationen sind willkommen.

Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir auf, dass meine Welt eigentlich eine ganz provinzielle ist, eine, die durch die Straßen und die Geschichte von New York eingegrenzt ist. Ich liebe diese Stadt und es missfällt mir zutiefst, dass sie sich immer mehr in völlig anonyme und seelenlose Architektur auflöst. Das Argosy Books & Prints auf der 59. Straße hat diesen Trend schon immer eigensinnig ignoriert, seine ganze 90-jährige Geschichte hindurch. Wenn man dieses Geschäft betritt, wird man vom Geruch von altem Papier, Knochenleim und dem Dunst vergangener Zeiten geradezu überwältigt. So war es auch schon, als ich 17 war und hier nach der Schule arbeitete, mich um die alten Drucke kümmerte und die gerahmten Exemplare in der ganzen Stadt auslieferte. Ich erinnere mich nicht mehr, ob ich gefeuert wurde oder kündigte. Letzteres scheint mir allerdings wahrscheinlicher – schließlich war es das Jahr 1966 und ich wollte Geschichte schreiben, nicht geschriebene Geschichte archivieren. Bemerkenswerterweise bin ich aber an diesen Ort, den letzten seiner Art, zurückgekehrt, um die Bücherberge nach dem Kuriosen, dem Verlorenen zu durchforsten.

Die bekannte Vergangenheit gibt uns ein sichereres Gefühl als die unbekannte Zukunft, daran besteht kaum Zweifel. Vielleicht sehne ich mich ja nach der Kameradschaft, die all diese Künstler, Illustratoren, Landkartenzeichner und Sozialsatiriker, deren lebhafte Visualisierungen diese alten Seiten schmücken, mir anbieten. Ich gebe auch zu, ein schwerer Fall von Max-Ernst-Neid zu sein (wer ist das nicht?!), obwohl ich Materialien aus dem 18. Jahrhundert ausgesucht habe. Mich beeindrucken ihr Eifer und ihre Sehnsucht, die ihnen bekannte Welt zu definieren. Diese Kupferstichplatten wurden auf wunderschöne Weise auf handgeschöpftes Büttenpapier gedruckt und waren ursprünglich als Buchillustrationen gedacht. Sie überlebten Brände, Überschwemmungen, Kriege und Desinteresse, bis sie im 20. Jahrhundert von Kupferstichhändlern ausgeschnitten und für den Kunsthandel eingerahmt oder auf Flohmarkttischen feilgeboten wurden. Hier warteten sie geduldig auf ihren zweiten oder dritten Akt, während das, was sie darstellten, längst durch Wissenschaft und Technik ersetzt oder hinfällig gemacht worden war. Hier bin ich zum ersten Mal auf sie gestoßen und habe mir die Zusammenarbeit mit ihnen ausgemalt.     

Kein Mensch hat echtes Interesse an diesen alten Bildern und ich fühle auch keine Schuld wegen meiner Umgestaltungen. Tatsächlich sehe ich es als Zusammenarbeit mit Künstlern aus vergangenen Tagen, die darum bemüht waren, die Entdeckungen und Attitüden ihrer Zeit zu illustrieren, was oft einer Herkulesaufgabe gleichkam. Manchmal mussten sie einem ihnen nur vom Hörensagen bekannten Pelztier Gestalt geben oder die Skizzen eines eine Schiffsexpedition begleitenden Künstlers in sensationelle erste Berichte darüber übertragen, dass die Expedition Beweise entdeckt hat für Kannibalismus! Menschenopfer! Nacktheit! Die Kupferstichkünstler erwarteten die Ankunft des Schiffs am Dock, um dann wie alle guten Reporter so schnell wie möglich der Öffentlichkeit Bilder zu präsentieren, an denen sie sich ergötzen konnte. Menschliche Neugier bringt exakt die gleichen Resultate auch heutzutage hervor.

FOUNTAINS & ALLIGATORS stellt insofern eine Abweichung von meiner Collagenarbeit dar, als sich das Thema über mehrere Dutzend Platten erstreckt. Ansonsten habe ich eigentlich eine eher individuelle Herangehensweise. Vor diesen Collagen war ich 17 Jahre lang damit beschäftigt, Haar darzustellen, und zwar aus allen möglichen Perspektiven. Die Arbeit ändert sich vielleicht, nicht aber die Verbissenheit/Besessenheit. Das Zeichnen ist die Leidenschaft, die hinter allem steht. Was mich interessiert, ist vor allem das „was“ und das „wie“.

Ruth Marten, New York City, 22. Februar 2016