Die erste Einzelausstellung der japanischen Künstlerin Rikako Kawauchi in der Galerie Van der Grinten im Jahr 2022 trug den schlichten Titel “Lines“. Damit gab er ohne Umschweife den formalen Leseschlüssel für das gesamte Werk vor, den offensichtlich roten Faden, der sowohl in ihren Zeichnungen (Bleistift und Aquarell) als auch in ihren dreidimensionalen Werken (aus mit Harz ummanteltem Draht) sichtbar war. Die Kraft des Strichs zeigte sich dort sowohl in den kleinformatigen als auch in den über drei Meter hohen Zeichnungen als unmittelbare, noch pulsierende Umsetzung der physischen Energie, die die Künstlerin während des kreativen Akts spürte und erlebte. Der Strich als Beweis für die Existenz des Körpers; die Linie als Ergebnis: der Körper als der wesentliche Ankerpunkt von Kawauchis’ künstlerischer Praxis und Reflexion, sowohl in formaler wie sinnlicher und philosophischer Hinsicht. In ihren eigenen Worten: „Ich glaube, dass die Linie wirklich den Zustand des Körpers einer Person ausdrückt. Obwohl der Zustand meines eigenen Körpers vage und unsicher ist, habe ich dennoch das Gefühl, dass die Linie meinen Körper und meine Gedanken, die in Bewegung sind, an einem Punkt fixiert. Wenn ich mir später die Dinge ansehe, die auf diese Weise fixiert wurden, habe ich das Gefühl, dass ich ein wenig besser verstehen kann, wie mein eigener Körper und meine eigenen Gedanken zu diesem Zeitpunkt waren.“
Für ihre zweite Ausstellung in der Van der Grinten Galerie hat Kawauchi einen sehr langen Titel gewählt, ein Zitat, das diesmal den Weg zur thematischen und gedanklichen Lesart ihrer Werke ebnet: “Food, animals, organs, plants, bodies etc, everything outside me is everywhere in the air, I breathe them in, I breathe them out” (“Lebensmittel, Tiere, Organe, Pflanzen, Körper usw., alles, was außerhalb von mir ist, ist überall in der Luft, ich atme sie ein, ich atme sie aus“). Wir zeigen zum ersten Mal Ölgemälde parallel zu einer Auswahl von neuesten Zeichnungen auf Papier. Im Gegensatz zu den leichten und klaren Zeichnungen, in denen die Formen im Raum des oftmals leer und makellos belassenen Blattes schweben und atmen, behaupten sich Kawauchis Ölgemälde in ihrer physischen Präsenz: In die dicken, frischen Schichten farbiger Materie dieses abstrakten und massiven Hintergrunds werden mit dem Spachtel Motive gegraben, die genau von derselben physischen Energie zeugen wie die reduzierten Linien, die auf das Blatt Papier gezeichnet werden. So betont Mika Kuraya, Direktor des Kunstmuseums von Yokohama, in diesem Zusammenhang: „ … unabhängig davon, mit welchem Zeichenmaterial die Linien auf den Untergrund gezeichnet werden, werden sie unweigerlich die Spuren des Körpers der Künstlerin einschreiben. Um den Sinn ihres eigenen Körpers in veräußerlichter Form zu entdecken, verlangt Kawauchi, dass die Spuren ihres Körpers eine stärkere Markierung in der malerischen Oberfläche hinterlassen.“
Die Bildsprache, die man in den Gemälden entdeckt, greift viele Elemente auf, die man bereits in den Zeichnungen angetroffen hat. Allerdings finden wir auch komplexe Kombinationen, in denen Nahrung, Tiere, Organe und Pflanzen noch stärker in mehr oder weniger chaotischen Kompositionen miteinander verschmelzen. Hier befinden wir uns im Herzen der Themen, mit denen sich die Künstlerin beschäftigt: die Wechselwirkungen zwischen dem Äußeren und dem Inneren des Körpers, die Ein- und Aufnahme über physiologische Wege (Essen, Atmen) der Welt, die unsere Körperhülle umgibt, ihre Umwandlung und Rückgabe (in Körpersubstanz und Energie). Die Mehrdeutigkeit und Verschmelzung der Motive, die als Darstellung einer Sache (eines Organs) oder einer anderen (einer Pflanze) gelesen werden können, die symbolische Vielseitigkeit dieser Motive sowie ihre obsessive Wiederkehr finden unter anderem ihren Widerhall in den Mythologien bestimmter alter Kulturen, wie sie Claude Lévi-Strauss analysiert, der große strukturalistische Anthropologe, dessen Einfluss Kawauchi in ihrem Werk betont. So sagte Kawauchi in einem Interview mit Mika Kuraya: „Die Ursprünge der menschlichen Kultur basieren auf der Ernährung und den mit dem Körper verbundenen Aktivitäten wie Verdauung und Ausscheidung. Diese Analyse stimmte mit meinen eigenen Überlegungen zum ema Essen und Körper überein. Darüber hinaus analysiert Lévi-Strauss alle Arten von Motiven in der Mythologie, wie Tiger, Palmen und andere Pflanzen und Tiere, und betrachtet sie als Verwahrer abstrakter Bedeutungen und Metaphern“.
Rikako Kawauchi, geboren 1990 in Tokyo, studierte an der Tama Art University und schloss ihr Studium 2017 mit dem Master ab. Bereits 2014 erhielt sie den 1st CAF Award und ein Jahr darauf den begehrten Shiseido Art Egg Award. Denen folgten 2021 der TERRADA art award und 2022 der VOCA Award. Kawauchi wird in Japan von der Tokioter Galerie Waitingroom und in Europa von der Van der Grinten Galerie vertreten.
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