Feine wellenförmige Kratzer ziehen sich durch die matten Farbfelder. Die hochformatigen Bildträger sind fast zur Gänze von der wogenden Masse eines Meeres aus eingeritzten Linien überzogen. Nur ein schmaler Streifen am oberen Rand bleibt frei und gibt dem Blick halt. Fast könnte es ein Horizont sein, ein Stück Himmel über einem Wasser, das geradezu taktile Qualitäten besitzt. Würden wir mit der Hand über das Bild streichen wäre jede einzelne Woge zu erspüren – feine Verletzungen der Bildoberfläche, die auf abstrakte Weise eine Geschichte zu erzählen scheinen. Vom Bildaufbau ausgehend, muss es eine tiefgehende Geschichte sein, eine, die davon berichtet, wie das Wasser im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Halse steht.
SUNT LACRIMAE RERUM – der Ursprung der lateinischen Redewendung basiert auf dem Schicksal des Aeneas, der seinen Vater aus dem brennenden Troja rettet und nach der erfolgreichen Flucht Rom gründen wird. Als der trojanische Held eines Tages ein Wandbild seiner zerstörten Heimatstadt sieht, stürzt ihm eine Tränenflut in die Augen und es fällt eines der gewaltigsten Worte der Antike: SUNT LACRIMAE RERUM – DIE WELT IST VOLLER TRÄNEN. Tränen, die so salzig sind wie das Meer und immer von einem leidgetränkten Schicksal erzählen. Ophelia ist solch ein Schicksal. Sie sucht – als Hamlet sie in seinem Wahnsinn verschmäht – den Tod durch Ertrinken und wird im 19. Jahrhundert vielfach gemalt. Mit dem Wandel der Zeiten wandeln sich allerdings die Mengenverhältnisse und vor allem die Kontexte. Wie sehen wir Abbildungen von Wasser heute? Selbst wenn sie – wie bei Fernando de Brito – menschenleer sind, drängen sich Bilder auf. Evoziert durch die heutige Datenflut haben wir eher die sogenannte Flüchtlingswelle und all die Schicksale derer vor Augen, die in den Tiefen des Meeres zurückbleiben. Aus dem individuellen Schicksal wird in einer vernetzten Welt das Schicksal von vielen. Dabei könnte das Tränenmeer genauso ein Bild für das Untergehen in den eigenen Emotionen sein und uns zurück zu uns selbst führen.
Das intime Format der bewusst klein gewählten Werke begünstigt genau diesen Moment der Zwiesprache zwischen Bild und Betrachter. Statt reißerischer Szenarien geht es hier um leise Stimmen. Die Poesie des Rätsels und ein intuitives Verstehen begleiten die Bilder. Wir können uns von ihnen berührt fühlen, ohne genau zu wissen warum. Ist es die Farbe, die eine Empfindung auslöst, ist es die abstrakte Formgebung, die etwa zum Klingen bringt? Oder ist es die Poesie, die durch die Bild-Text-Verschränkung entsteht? Den Ausstellungstitel begleiten Bildtitel wie AUGUSTA, POZZALLO, MAHDIA, SFAX, SOUSSE. Sie klingen fremd und doch bekannt. Alle sind sie der Beginn einer Reise – des Aufbruchs ins Unbekannte. Manche dieser Reisen enden im Nirgendwo, andere an fernen Orten. Die Decodierung bleibt beim Betrachter, der Künstler gibt Hinweise, ohne konkret zu werden.
Offensichtlich ist nur, dass die Bilder das Nachdenken darüber verbildlichen, wie sich Geschichten abbilden lassen, ohne sie zu erzählen. Denn intensiver als ein Bericht wird immer die eigene Imagination bleiben. Gerade zwischen den Zeilen, in diesem Fall zwischen den Linien, steht oft mehr, als tausend Wörter sagen könnten. Weil wir diese Zwischenräume oder Leerstellen mit eigenen Projektionen, Gedanken und Gefühlen füllen. Was ihnen eine Lebendigkeit und Intensität verleiht, die eben nicht durch Begriffe begrenzt, sondern so weit wie das Meer selbst ist.