Marc Wellmann: Alles wächst. Wolfgang Flads plastisches Werk
1. Januar 2013

Wolfgang Flads organisches Formenvokabular, das sich sowohl in Wandarbeiten als auch vollplastischen Skulpturen ausdifferenziert, ist mit Motiven des Wachstums, Wucherns und Vernetzens befasst. Ein wiederkehrendes Element sind die glatten, geometrischen Formen lackierter Podeste, die als integraler Bestandteil der Skulpturen fungieren. Auffällig ist bei seinen verschlungenen, drängend dynamisierten Gebilden, die sich zu raumgreifenden Installationen steigern können, das am menschlichen Körper orientierte große Format. Seine Arbeiten sind weder als Miniatur noch im Medium fotografischer Abbildungen zu verstehen. Ein wesentlicher Aspekt ihrer Wirkung ist eine leiblich gestimmte Konfrontation mit den Betrachtern, die sich als raumgebundenes Erlebnis vollzieht. Im Prozess der physischen Annäherung und kreisenden Umschreitung spiegeln sich nicht nur bestimmte stilistische Merkmale der Skulpturen, deren Komplexität und Größe auf eine milde Form ästhetischer Überwältigung angelegt sind. Die Auseinandersetzung mit dem Original mündet unweigerlich in Fragen nach ihrem Material und dem Vorgang ihrer Hervorbringung als ersten Schritt intellektuellen Begreifens. In diesem Punkt hält Wolfgang Flads Werk jedoch einige Überraschungen parat.

Sehr häufig entsteht etwa der Eindruck, dass die Skulpturen aus einem Block herausgeschnitten wurden. Dazu tragen unter anderem monochrome Randflächen und geometrische begrenzte Schnittkanten an den Enden der tentakelartigen Ausstrebungen bei, die die gestischen Qualitäten der Skulpturen unterbinden bzw. begrenzen. Tatsächlich sind alle Arbeiten von innen heraus konstruiert und die großen Volumina entpuppen sich als hohle Kulissenkörper. Flad baut seine Gebilde aus handelsüblichen Holzplatten und –latten, die er mit Mitteln von Winkeln und Schraubverbindungen in eine räumliche Konstellation versetzt. Im zweiten Schritt werden die Kanthölzer durch Schnitzen stängelförmig verschlankt und gerundet. Die organische Weichheit erzielt Flad jedoch vor allem mit einem darauf folgenden additiven Vorgang, der die Übergänge und Verbindungspunkte mit Pappmaché verdickt und verschleift. Abschließend erhält das Gebilde eine polychrome Fassung, in der Flads ursprüngliche Ausbildung als Maler kenntlich wird und bei der er häufig mit metallischen Effekten operiert. An einigen Stellen hält er durch partiellen Abrieb wieder die Stofflichkeit des Holzes gegenwärtig. Die farbige Fassung verschleiert vor allem die Materialität des Pappmachés, doch geschieht dies auf eine gebrochene Weise, die den darin enthaltenen Vorgang von Täuschung und Enttäuschung in sehr gegenwärtiger, das heißt konzeptioneller Weise mit einkalkuliert. So wird in diesem Zusammenhang kommuniziert, dass es sich bei dem Pappmaché um kein gewöhnliches Material handelt, sondern es aus dem Schreddern von kunstkritischen Texten gewonnen wurde. Wolfgang Flad recycelt das Denken und Schreiben über Kunst, indem er es als konkretes Material seinen Kunstwerken einverleibt! Wenn man will, kann man darin eine gehörige Portion Humor erkennen, doch bei genauerem Nachdenken lässt sich diese Materialsetzung auch als Kommentar auf die retrospektive Haltung lesen, von der aus sich Wolfgang Flad als Nachgeborener auf die abstrakte Formenwelt der 1950er und 1960er Jahre bezieht und zu der er sich offen bekennt. Das Textmaterial zieht in diesem Sinne eine Vermittlungsebene zur Moderne ein, deren Aneignung in Form einer Neo-Moderne sich nicht bruchlos bewältigen lässt. Als eigenständige Cover-Version spielt Wolfgang Flad bewusst mit einem doppelbödigen Anschein, dessen Entzauberung Teil des Programms ist. So ist auch die knöchrige Struktur von Flads Skulpturen zu verstehen, die der Künstler selbst als „abgenagte Skelette“ beschreibt, gleichsam als Abglanz der satten Fleischlichkeit einer frühen organischen Abstraktion, wie sie beispielsweise in Werken von Hans Arp zu finden ist. Flads Skulpturen erheben sich auf diese Weise im morbiden Pathos, fragil und schutzlos, gegen die Macht der Geschichte.

Wolfgang Flads neue Serie von Bronzegüssen schreibt diese Lesart in einer weiteren Volte fort. Sie sind durch Abformungen der Originale aus Holz und Pappmaché entstanden und besitzen dadurch den ontologischen Status von Kopien, die die oben beschriebenen konzeptionellen Brechungen noch in Form einer Spur, gleichsam als Gefäß, bewahren. Doch zudem ist in ihnen der Gestus einer Rückführung in das ursprüngliche bzw. eigentliche Material enthalten, aus dem die überwiegende Anzahl moderner Skulpturen überliefert ist. Die Gegenwärtigkeit von Flads Werken beweist sich nicht zuletzt durch den akzentvollen Einsatz farbiger Flächen auf dem Gussmaterial, zum Teil auch als schimmernden Spraylack, was als kalkulierter Tabubruch gewertet werden kann.

Ähnliche Täuschungs- und Versetzungsstrukturen sind auch bei Wolfgang Flads Wandarbeiten zu beobachten. Noch während seines Studiums der Malerei an der Kunstakademie Stuttgart gelangte er zu dem Verfahren, mehrfach lackierte Schichtholzplatten mit Bohrer und Fräse punktuell so zu bearbeiten, dass die Materialeinbrüche wie ein gestisches Farbdripping aussehen. Die inszenierte Bewegungsdynamik ist das Produkt eines sehr beherrschten handwerklichen Transformationsprozesses, der den scheinbar freien Fluss der Farbe in die Beständigkeit industriell vorgefertigter Materialien überführt. Dieses bis heute angewendete Verfahren nimmt Anleihen bei Daniele Buettis perforierten Fotografien, bei dem Flad lange als freier Assistent arbeitete. In einer aktuellen Serie von Aluminiumreliefs entwickelte Flad das formale Konzept der Wandarbeiten weiter. Auch diese erinnern auf den ersten Blick an Farbspritzer, wie sie sich als Malakt auf einer Leinwand abzeichnen würden, doch entstehen sie diesmal durch Verätzungen auf Styroporblöcken, die der Künstler im Unikat-Verfahren der „Verlorenen Form“ dann in Aluminium abgießen lässt und schließlich durch Polieren farblich nuanciert.

Wolfgang Flads Werk hebt mit den Mitteln des Zitats und der ironischen Distanz ein Formproblem auf, das in der Überschrift dieses Beitrags eingelagert ist. Dabei handelt es sich um die biologistische Wendung des Ausspruchs „Panta rhei“, der auf den vorsokratischen Philosophen Heraklit zurückgeführt wird und so viel bedeutet wie „Alles fließt“ im Hinblick auf die Vorstellung einer ewigen Wandlung des Seins.

Das was als festgefügte Form erscheint, wie etwa die Serpentinen eines Flusses, unterliegt einer inneren Dynamik, die in diesem Fall das Gewässer in stetiger Weise austauscht, weshalb man, so eine andere berühmte Heraklit-Sentenz, niemals zweimal in denselben Fluss steigen könne. Als Thema der Bildhauerei geht es bei diesen Fragen um den ureigenen Widerspruch zwischen der Beständigkeit des plastischen Materials und sein Verhältnis zur Flüchtigkeit und letztlichen Ungreifbarkeit des Lebendigen. Die Wachstumsmotive bei Flads Werken in der Tradition der organischen Abstraktion behaupten sich ohne Zweifel als Formen im Raum, doch darüber hinaus sind sie Katalysatoren eines durchaus vertrackten konzeptionellen Spiels, das sich allein Kopf abspielt und als Bewegung des Denkens die plastischen Körper animistisch überformt.

Marc Wellmann, 2013