Einmal mehr zeigt diese Ausstellung von Matthias Röhrborn, was für einen Künstler von heute Malerei ist – kein Haschen nach einer Stil-Kategorie, kein Fischen nach Traditionselementen, kein Beharren auf einen formalen Realismus, nicht einmal auf einer bestimmten Formgebung – sondern Entscheidungen treffen für eine zufällig gefundene Fotografie, für die Wiederholung eines Motivs, das der Künstler schon ein- oder mehrmals verwendet, aber immer in einen neuen Umraum gesetzt hat, vor allem aber rigoroser Umgang mit den Materialien der Malerei und mit den Mitteln, die ein Bild ausmachen können – Inhalte und Strukturen, pastoser Farbauftrag und freier Farbverlauf.
Das und noch mehr finden wir in den großen und kleinen Bildern von Matthias Röhrborn. Betrachter wir einmal dieses zentrale Bild eines Kinderpaares: „kids“– großes Mädchen, das Flöte spielt, und ein Junge, der zuhört. Heute eher ungewöhnlich, was für das Motiv bedeutet, dass es entweder erinnert wird oder gefunden wurde und dann relativ weit in die Vergangenheit zurückweisen könnte.
Wir können nun darüber spekulieren, warum sich Matthias Röhrborn für dieses Motiv entschlossen hat, es sogar mehrmals jeweils mit einem anderen Umraum wiederholt – aber diese Spekulation werde ich Ihnen nicht vorformulieren, das ist eine Übung, die Sie selbst bewältigen können.
Das Kinderpaar sitzt vor einem farbenfrohen Dreieck, einem Heuhaufen, einem Zelt, uns genügt, zu sagen vor einer vielfältigen Farbfläche, in der bestimmte Auftragsweisen wiederholt werden – ebenso wie bestimmte Farben, was dem Dreieck eine gewisse Struktur gibt. Das Dreieck ragt weit über eine Landschaft hinweg, in der wir Farbsetzungen sehen, die an Häuser erinnern, also eine Vorortlandschaft scheinbar mit viel Grün, mit etlichen Häusern, mit einer weiträumigen Tiefe. Wir nehmen die Illusion auf, dass das Dreieck auf einem mehrere hundert Meter hohen Berg stehen müsste, das suggerieren uns die Proportionen.
Die Landschaft, die eigentlich nur aus differenzierten und kontrastierenden Farben besteht, die sich gelegentlich zu Viereckformen versammeln, endet nach landläufiger Vorstellung am Horizont. Auf den folgt in diesem Bild aber noch ein blauer Streifen, wie wenn ein Ufer dort ist, ein Fluss vorüberzieht, ein Gestade sich zeigt. Darüber dann ein neuer Horizont und darüber Wolken.
Diese Motivfolge befremdet, denn proportional und tiefenräumlich passen Fluss und Horizont nach konventionellem Bildverständnis nicht zur vorher aufgebauten perspektivisch angelegten Gartenlandschaft. Der Künstler aber ist Herr über sein Bild, selbst wenn es ganz intuitiv gemalt sein sollte, und kann entscheiden, was Horizont ist und was Wolken sind. Er malt gegen das gewohnte Sehen, trennt sich also von Konventionen und entwickelt so aus einem beschaulichen, fast romantischen Kinderbild eine spannende und befremdliche Szene.
Das ist nicht der einzige bewusst herbei geführte Bruch in der Komposition. In einer Partie wird der perspektivischen Ausdehnung des Illusionsraumes widersprochen, indem relativ unauffällig vertikale Linien gezogen oder gemalt werden, die wie ein Vorhang einen Teil der Landschaft abtrennen. Matthias Röhrborn hat die Arbeitsweise gewechselt und damit im Bild eine überraschende andersartige Partie hervorgehoben. Sicher finden Sie beim Betrachten der Arbeit noch weitere Überraschungen dieser Art.
Während der Künstler an diesem Bild sehr lange, Wochen, Monate, natürlich nicht ununterbrochen gearbeitet hat, sind die kleinen Quadrate in kurzer Zeit entstanden; sie zeigen jeweils im einzelnen Werk eine oder zwei Methoden des Malens, wie sie in den großen Bildern neben anderen eingebracht sind. Die kleinen Quadrate sind durchweg nonfigurativ, im üblichen Sinne ungegenständlich oder abstrakt. Aber auch in diesem Bereich lassen sich große kompositionelle Unterschiede festhalten, insbesondere, wenn größere Arbeiten den kleinen Quadraten gegenübergestellt werden. Dann sehen wir, wie der Maler zunächst einen Tiefenraum mit vielfältig differenzierter Farbigkeit schafft, und wie er dann das Ergebnis mit einer einzelnen dichten Farbe abdeckt, sogar so viel Farbmasse auf die Fläche schüttet, dass er damit, indem das Bild bewegt wird, die Farbe in schmalen Strömen verlaufen lassen kann. Diese abstrakten Arbeiten sind ein Pol im Werk von Matthias Röhrborn. Der andere Pol ist im ursprünglichen Sinne fotorealistisch.
Das sind die Caravans. Das ist ein ungewöhnliches, wenn auch ganz alltägliches Motiv, vielleicht, weil es so banal ist, erscheint es ungewöhnlich – in der Phase des Fotorealismus hatte Ralph Goings einen Caravan damals modernsten Baustils gemalt, klar, dass diese Ikone des Themas Automobil im Fotorealismus einem Künstler von heute gegenwärtig ist. Matthias Röhrborn hat mir erzählt, wie er auf dieses Thema gekommen war – Auf einem Parkplatz nahe seiner Wohnung stand monatelang ein Caravan, ohne dass er bewegt wurde, ohne dass sich jemand darum kümmerte, also wenigstens scheinbar vergessen, dafür von der Natur angenommen und langsam von Büschen und Bäumen eingeschlossen. Dieser Prozess brachte ihn auf die Idee, das Motiv zu nutzen, zu fotografieren und zu malen. Seitdem hatte er einen Blick für Caravans ungewöhnlichen Aussehens oder in einem spannenden Umfeld– bis hin zu einem zusammengebrochenen Haus. Es geht also auch bei diesen Motiven um Brüche – sei es eine ungewöhnliche und vielleicht fragwürdige Bemalung, die sich gegen die abgerundete Kastenform richtet, oder um die Sicherheitsfrage – mit dem Caravan wird die Mobilität für einen gewissen Anteil an Sicherheit eingetauscht, sichtbar meist durch den Aufstellungsort – neben einem Haus oder in der weiten Landschaft. Nicht so ganz von der Hand zu weisen ist auch in diesen Bildern das Gefühl von Einsamkeit – der Caravan ist auch in einer Reihe geparkter Autos ein vereinzeltes Gefährt. Matthias Röhrborn braucht für eine solche Empfindung der Einsamkeit keine Menschen – wie er in seinen Bildern Empfindungen nirgendwo direkt anspricht – sie können auftauchen, aber der Betrachter muss nicht auf sie gestoßen werden.
Ich sprach von zwei Polen – Fotorealismus und Abstraktion – aber im Grunde gibt es noch eine dritte Gruppe, die etwas außerhalb der Achse zwischen den beiden Polen zu liegen scheint – die figurativen Kompositionen, wie die drei Geschwisterbilder oder die Arbeit mit der versunkenen Statue: Diese Arbeiten sind figurativ, aber nicht realistisch, schon gar nicht fotorealistisch und infolgedessen separat zu betrachten.
Das Bild mit der Statue ist mit einer bewegten blauen Fläche überzogen, die sich im oberen Teil zu einzelnen Pinselstrichen auflöst. Die Assoziation Wasser ist nahezu unvermeidlich, nicht zuletzt weil die schwarze Figur im unteren Bildteil einen Raum erhält – Wasser, d.h. sie ist versunken oder überschwemmt. Nun vermeidet Matthias Röhrborn Eindeutigkeiten, darum wird das Blau an der Oberfläche nicht so weit verarbeitet, dass es mit Wasser realistisch identifiziert werden kann. Das Blau bleibt Farbmaterie mit pastosen Verdichtungen an der Bildoberfläche, es imitiert nicht Wasser. Es – das Blau – eröffnet nur die Möglichkeit, es als Wasser zu deuten, zu assoziieren. Und genauso ist es dann mit der Statue – Von der Form her ist es ein Denkmal, aber woran soll man denken? Von ganz weit her ließe sich an ein Bild von Caspar David Friedrich denken: „Der Wanderer über dem Nebelmeer“. Matthias Röhrborn dreht die Verhältnisse einfach um: Die Statue unter dem Meer und verdeutlicht damit auch das Verhältnis zur Tradition: Sie ist da, sie ist eine Herausforderung, aber man muss sich nicht ununterbrochen damit beschäftigen, und wenn, dann kann man mit ihr arbeiten, sie auch umkehren, neu interpretieren oder auch nur beiläufig als eine Position wahrnehmen.
Aber haben wir in einem der Bilder von Matthias Röhrborn erst einen Hauch von Romantik verspürt, neigen wir dazu, mehr von diesem Hauch zu suchen – in Figuren, im Bildraum, in der Farbwahl. Solch ein Hauch ist immer ein Einstieg in die Bilderwelt von Matthias Röhrborn – auch um im Umgang mit den Bildmaterialien das Gegenteil von Romantik zu sehen, eine rigoros sachliche Untersuchung ihrer Verwendbarkeit.
Jürgen Weichardt, 2014