Gustave Le Gray (1820-1884), der sicherlich bedeutendste Landschaftsfotograf des Second Empire, hatte eigentlich Malerei studiert. Zu einer Zeit, in der das noch junge Medium Fotografie vor allem als wissenschaftliche Aufnahmetechnik gesehen wurde, hörte er aber nie auf, sich als Künstler zu verstehen. Dank seiner Erfindungskraft und seines Talentes gelang es ihm, die technischen Beschränkungen zu überlisten, ja über sie hinaus zu gehen. Die aussergewöhnliche Kraft seiner Lichtbilder liegt darin, dass sie in andere Ebenen ragen als die der einfachen, getreuen Abbildung der Welt: Vielmehr geht es um die visuelle Übersetzung eines Gefühls gegenüber dieser Welt. Dieses Phänomen kulminiert in seinen Meereslandschaften („Marines“): Bildkompositionen aus Linien, Licht und Kontrasten, die aus zwei separat voneinander belichteten Negativen bestehen – eins für den Himmel und eins für das Meer, welche wiederum zusammen als ein Bild abgezogen wurden. So diente aus künstlerischem Bewusstsein dieser geniale „Montage-Trick“ der Entstehung erhabenster Meeresansichten…
Die neue Ausstellung von Elger Esser in der Van der Grinten Galerie besteht aus vierzehn, noch nie gezeigten und spezifisch als Hommage an Gustave Le Gray entstandenen Meereslandschaften. In seinem seit Mitte der 90er Jahre entstehenden Werkkorpus aus fotografierten Landschaften überführt Esser das Gesehene ineine zeitliche und imaginäre Dimension, die der Gegenwart bewusst, jedoch zugleich enthoben ist. Durch die Konzentration der Komposition auf wenigen Bildelementen, und vor allem durch die stark reduzierte Farbigkeit bildet Esser keine bestimmte Landschaft mehr ab: Es entsteht das Bild einer Idee von Landschaft, welche den Betrachter emotional bewegt. In ihren subtilen Nuancen von Tonwerten und im Spiel mit dem metallischen Klang des Untergrunds transportieren seine jüngsten, auf versilberten Kupferplatten gebrachten Aufnahmen diesen abstrakten Gedanken weiter. Seine Bilder sind nicht narrativ im Sinne, dass sie eine Geschichte erzählen, sondern sie beschreiben eine Geschichte: die der Essenz der Dinge, die uns mit der Zeit vor und nach unserer Zeit verbindet und die wie ein Echo im tiefen Inneren anrührt.
Anders als bei Le Gray ist Elger Esser ein Fotograf, der zum Maler geworden ist. Und wie bei den Pionieren des XIX. und XX. Jahrhunderts ist er stets auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, sein künstlerisches Feld zu erweitern und bereichern. Dafür beschäftigt er sich immer wieder mit der Geschichte des Bildes – seines Entstehens und seiner Beschaffenheit, ob in der Fotografie oder in der Malerei – und, setzt sich besonders mit den Meistern der ersten, wahren Moderne in Beziehung: Proust, Flaubert, Huysmans, Maupassant, Corot, die Barbizon Schule, Monet, Le Gray… Mit diesen sehr eigenen Referenzen, die seine persönliche biografische Verbindung zu Frankreich begleiten und nähren, und mit der stringenten Fortsetzung seines künstlerischen Stoffs vertritt Esser zweifelsohne eine einzigartige, starke Position in der künstlerischen Gegenwartsfotografie.