Man meint, man müsste sie kennen. Und manchen erkennt man auch, andere wiederum nicht, je nach Wissensstand. Der starken Präsenz der Porträts von Marcus Neufanger kann man sich jedoch so oder so nicht entziehen. Zu fesselnd die Gesichter und Staturen, die hier Aufmerksamkeit heischen. Fragt man sich, woher diese Wirkung kommt, so führt dies unwillkürlich zu den Persönlichkeiten selbst. Marcus Neufanger zeigt Künstler, zu einem Gutteil charismatische Selbstdarsteller, die nicht selten performativ, mit bewusster Publikumsansprache arbeiteten oder arbeiten. Nicht von ungefähr scheint von daher ein hoher Anteil an Künstlern im Happening und Fluxus der 1960/70er-Jahre verortet: Emilio Prini, Nam June Paik, Ben Vautier, André Cadere, HA Schult, Jean Guillaume Ferrée, Walter Pichler, Wolf Vostell sowie nicht zuletzt Joseph Beuys, der mit Filzhut und blutig geschlagener Nase, die er sich bei seiner legendären Aktion „Kukei, akopee – Nein! …“ am 20. Juli 1964 im Auditorium Maximum der Technischen Hochschule Aachen während eines Fluxus-Festivalsholte, ikonengleich vor uns schwebt.
Wer mehr erfahren will über die Porträtierten wendet sich unweigerlich den Texten zu. Denn Marcus Neufangers Zeichnungen sind Text-Bild-Arbeiten, das heißt jedem Bildnis ist ein handgeschriebener Text in Blockschrift beigestellt. Wobei beigestellt nicht ganz richtig ist. Bild und Schrift als grafisches Element ergeben vielmehr eine verwobene Einheit, die immer anders ausfällt, anders gewichtet ist. Was der Betrachter in den Texten findet, variiert und ist damit ebenso individualisiert wie die Persönlichkeiten jede für sich ihre eigene Botschaft, ihr persönliches Statement zu transportieren scheint. Neben Sachinformationen wie Lebensdaten oder Kommentaren sind es vor allem Künstlerzitate, die den Dargestellten eine Stimme verleihen und die dargebotene Szene – denn die Porträts vereint allesamt ein aktionistischer Impuls – untermalen. Als Erläuterungen lesbar implizieren sie durch ihre Platzierung eine direkte Verbindung zwischen Text und Bild. Dient ihre Aussage meist affirmativ dem Bild, so ist dies nicht in allen Fällen so. Oder nicht sofort ersichtlich, wenn humorvoll falsche Fährten gelegt werden. Beispiel Nam June Paik, dessen ausschnitthaftes Porträt aus seiner Musik-Performance „Random Access Music“ stammt, in der der Besucher den Tonkopf mithilfe einer Penis-Attrappe bedienen konnte. Gerade dann aber wirken sie als produktive Irritation auf den Betrachter, der sich seiner eigenen Position umso bewusster wird in Anbetracht der Herausforderung zum Weiterdenken über das Bild hinaus. Marcus Neufanger kontrastiert hierin die spontane, eindringliche Wirkung der Bildnisse und stellt eine Form der Distanz her, die gleichermaßen für ihn als Produzenten gelten mag, der sich des Effekts seiner Bildnisse zweifelsohne bewusst ist, anhand der ausgewählten Kommentare jedoch eindeutig zur Reflexion einlädt.
Eine Distanz verbirgt sich im Übrigen auch in den Porträts, deren doppelter Boden darin besteht, dass ihr Vorbild ein bereits existentes Künstler(selbst)porträt ist, auf das Marcus Neufanger zurückgreift. Seiner Inszenierung liegt somit die Inszenierung des Porträts zugrunde, der wiederum das In-Szene-Setzen des Künstlers selbst zugrunde liegt. Die Kunst lebt von der Inszenierung, wäre ein schneller Schluss. Sie lebt von Haltung und Aussage wäre ein weiterer, der tiefer greift, und vielleicht eher trifft, worum es geht. Denn es geht ebenso um Bekenntnis wie um kritische Auseinandersetzung. Sicher lassen sich viele der Künstlerbildnisse als Hommagen deuten, aber nicht alle. So ist kaum anzunehmen, dass die Antwort Daniel Richters im Interview über „gute Ausstellungen“ zusammen genommen mit der dargestellten, durchaus sehr menschlichen Geste – die in diesem Fall ganz sicher ein Fremdporträt ist – nicht ironisch gemeint ist.
Doch auch wenn in den Bildern der „moderne homo soziologicus, ein Akteur, ein Schauspieler, gezwungen, in eine Vielzahl von Rollen zu schlüpfen“ (Klaus Honnef) anzutreten scheint, so zwingt Marcus Neufanger seine beredten Protagonisten in einen Moment des Innehaltens. Es ist die Zeichnung selbst, die diese Wirkung herstellt. Ihre Haptik ist dicht, die Farbflächen opak und klar gesetzt innerhalb eines bewusst reduzierten Spektrums. Sie drückt ebenso wie die Schrift einen so hohen Grad an Konzentration aus, das trotz der performativen Motive nichts flüchtig erscheint. Hinzu kommt die Stilisierung, die allzu Persönliches oder Zeitliches glättet und einen überzeitlichen Effekt schafft. Diese Kontrastierung des Motivs gegenüber seiner Darstellung trägt entscheidend zu dem gänzlich eigenen Charakter der Arbeit von Marcus Neufanger bei, der mittels seines intellektuellen wie sinnlichen Zeichensystems aus Bild und Text die Kunst auf einen Augenblick anhält und einen Raum für Denkprozesse schafft.
Sonja Klee